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Damals – als es noch ein Segen war – wenn alte Menschen sterben.

«Wäääääähhhh… ich kann nicht mehr!»
Änneli steht mit ihrem Rollator mitten im Gang und plärrt was das Zeug hält drauf los.

Sie hat heute lange geschlafen, unser Änneli, denn es ist kurz vor Mittag, als sie da im Gang steht und laut ruft
«Ich kann einfach nicht mehr!» die Hände am Rollator haltend und den Jupe bis unter die Achseln hochgezogen steht sie da.

«Was geht oder kannst du nicht mehr Änneli» frage ich sie und stelle mich zu ihr.
Ich mache ihr den Vorschlag, dass wir uns nach vorne in die Sofaecke setzen und sie erzählt mir was los ist.

«Neiiiin!«
Sagt sie erzürnt und stampft mit einem Bein auf den Boden.
«Na gut, dann eben hier, aber ein bisschen müssen wir schon zur Seite rücken sonst kann hier Niemand mehr durch.» merke ich an. Änneli lässt sich nur sehr widerwillig darauf ein.

Ja – Sie ist ein «stures» altes Froueli und sie will bestimmen wie was wann geht oder nicht geht … aber das wundert mich nicht, musste sie doch stets als Verdingkind und Magd das machen was der Meister oder seine Frau von ihr wollten.Ein Leben lang wurde sie geknechtet und musste für Alles her und ja oft auch hinhalten.Nun war sie hier – weit über 90 Jahre alt- die Haare fielen ihr kreisrund aus und sie hatte einen leichten Buckel. Klein war sie – sicher nicht grösser als 148cm.

Ich war ihr zugeteilt als sogenannte Bezugsperson. Änneli war mir sehr ans Herz gewachsen – all die Jahre und ich mochte ihre aufmüpfige und manchmal recht zornige Art sehr gerne. Sie konnte aber auch wie ein Meiteli sein und reden. 

Was aber ihr absolutes Markenzeichen war; ihr Lachen! So herzlich und aus vollem Herzen habe ich nie zuvor einen Menschen lachen hören und sehen. Das trotz ihrem schweren Schicksal und Leben.

Wir begaben uns also ein wenig zur Seite des Ganges um miteinander zu reden.
«also Änni was plagt dich so?» fragte ich sie.
«Ja weisst du – ich sterbe heute!» sagte sie mit einem Lächeln wie eine Sternschnuppe.
«Aha» sagte ich «und jetzt willst du hier am Rollator im Gang sterben oder was?» fragte ich weiter.

«Sicher nicht!» sagte sie und lachte laut heraus. Sie kugelte fast zu Boden so musste sie lachen 
«aber weisst du» fuhr sie fort « ich sterbe erst wenn Martha mich besucht hat, mein Gotti»
«Hui Änni dein Gotti arbeitet heute aber.» klärte ich sie auf.
«Mir egal … sie soll kommen! Sag ihr dass ich sterbe!»

«Gut Änni – ich werde sie anrufen und ihr das sagen, dass sie kommen soll, gut so Änni?»
«Aber sicher! Du machst das gell – versprochen!» sagte sie noch und ich begleitete sie zum Mittagstisch an ihren Platz.
Sie schien sichtlich erleichtert, dass das Gotti heute kommt.
Sie hatte eine Zufriedenheit in ihrem Gesicht wie ich sie selten bei ihr gesehen habe.

Sie stellte den Rollator an den vorgesehenen Platz und setzte sich an den Tisch.
Wir begannen zu schöpfen und als der Teller von Änneli dran war, sagte ich zu der schöpfenden Person:
«nicht zu viel Gemüse für sie, sie schiebt es eh nur wieder an den Tellerrand»
«Ja ich weiss – sie ist ein bisschen wunderlig was Essen anbelangt, aber ich mache eine kleine Portion Gemüse am Rand für sie» gesagt – getan und ich servierte Änneli den gefüllten Teller.

«Guten Appetit allerseits» wünschten wir den Bewohnern und setzten uns zu denen die Hilfe brauchten. Nach ca. 30 Minuten waren so ziemlich alle fertig mit essen und wir begannen abzuräumen. 

Ich räumte den Teller von Änneli weg und wollte schauen wie sie das Gemüse wieder schön am Rand des Tellers drapiert hatte, so wie sie es immer getan hatte.

Aber was sah ich – Teller völlig leer gegessen!
Ich zeigte es meiner Kollegin und wir sahen uns verwundert an. 
Das hatte es noch nie in all den Jahren gegeben seit ich Änneli kenne.

«Änni du hast das Gemüse aufgegessen, was ist denn da passiert?»
«äbe – ich habe es doch gesagt – ich sterbe heute und der liebe Gott soll sehen dass ich alles esse dann komme ich ja bestimmt in den Himmel» erzählte sie mit strahlenden Augen.

Ich streichelte ihr die Hand und war so tief berührt, dass ich voll feuchte Augen bekam.
Und ich nickte ihr einfach zu, «ja der liebe Gott hat es bestimmt gesehen»

Nach dem Kaffee bat mich Änneli sie doch in die Sofaecke zu begleiten. Sie wolle sich dort hinsetzen. Sie fragte nochmal nach, ob ich denn dem Gotti schon Bescheid gegeben hätte? Ich versprach es gleich nach dem Wechsel in die Sofaecke zu machen und sie anzurufen.

Änneli setzte sich und ich ging telefonieren.

«Sie kommt heute Abend nach der Arbeit – Änneli ungefähr so viertel vor acht» informierte ich Sie
Änneli sah mich mit leuchtenden Augen an und sackte urplötzlich in sich zusammen.
«Um Gottes Willen Änni was ist denn?»
«Bring mich ins Bett ich werde dort auf sie warten» sagte sie leise und gebrochen.

Ich bat meine Kolleginnen mir zu helfen Änneli in ihr Zimmer ins Bett zu bringen und informierte die Chefin über den Zustand von Änneli.

Sie war ja bei allen beliebt – auch bei den Mitbewohnern. Diese fragten was denn sei und ob sie helfen könnten. Ich bat sie abzuwarten und ich würde sie dann informieren sobald Änneli im Bett liege.

Änneli wurde ins Bett gelegt und sofort schien es ihr wieder besser zu gehen. 

Sie sagte ganz genau wie sie im Bett sitzen und sich eingebettet haben will. Das Kopfteil wurde hochgestellt und die Kissen nach ihren Wünschen drapiert. Sie sass da wie eine kleine Prinzessin – grinste lachte und zwischen durch sackte sie ein wenig zusammen, aber nur um wieder «Anlauf» zu nehmen so laut wie möglich zu lachen.

«Messt mal Fieber» sagte die Chefin.
Ich holte den Fiebermesser und sagte Änneli ich müsse ihr Fieber messen, denn ohne Fieber werde nicht gestorben, sagte ich scherzhaft zu ihr. So wie es unsere Art war miteinander zu scherzen und zu lachen.

«wäääh haaaahhaaaaaaa» Änneli begann so laut zu lachen, ich höre sie heute noch!
Dieses Lachen war so frei sooo unglaublich und sie konnte nicht mehr aufhören. Immer wieder begann sie erneut zu lachen, wenn sie den Fiebermesser sah.

«Nimm den weg!» befahl sie und lachte gleich wieder laut « der ist für die Katze!» und wieder lachte sie frei heraus. Wir lachten so zusammen und ich sagte ihr: «wow so zu sterben ist ja schon was Besonderes, wie eine Prinzessin im Bett mit Fiebermesser, doch doch so lässt es sich gut sterben.»

Sie nahm meine Hand und hielt die an ihre Lippen dann küsste sie die Innenfläche und sagte: «du bist ein Unikum, aber ein gaaaanz liebes!»
Umarmen konnte sie nicht – das ging ihr zu nahe, schon immer – aber diese Geste von ihr, ich war verzaubert!

Mittlerweile hatte ich die anderen Bewohner informiert und Änneli liess «Hof halten». 

Ja, es sah tatsächlich so aus, denn die Bewohner besuchten sie – schäkerten mit ihr und wünschten ihr das Beste von Allem. Mein Feierabend war auch da und ich sagte zu Änneli: «Gotti kommt in etwa einer halben Stunde, soll ich noch bleiben oder mache ich Feierabend?
«Geh du ruhig – hast es verdient» rief sie mir zu.

Und ich rief zurück: « ich habe jetzt zwei Tage frei, falls du stirbst – Alles Gute und der liebe Gott freut sich sicher auf dich, so eine kleine Prinzessin die so fröhlich lachen kann, können die da Oben sicher gut gebrauchen!»

Sie winkte und ich ging.

Dieses Winken vergesse ich nie – es war so erhaben so prunkvoll – wie eine echte Prinzessin halt.

Ich bat noch die Kollegin die Spätdienst hatte, mich doch zu informieren falls eine Verschlechterung eintreten würde.

Um 22.15h bekam ich ein Telefon:
«Änneli ist gegangen!»
Gotti war bis 22h da und danach bettete ich Änni noch um und als ich sie noch zudecken wollte, machte sie ihren letzten Atemzug. Sie schlief einfach ein mit einem Lächeln auf ihrem Gesicht. 

«Ich denke sie ist Gott begegnet, was meinst du?»
Ich weinte und dennoch war ich so glücklich. 
Änneli hat gewusst, dass sie stirbt und wieder einmal erfuhr ich, dass wir Menschen es wählen können wann wir gehen, denn es war nicht das erste Mal dass ich sowas erlebte.

Ein WUNDER sondergleichen …

Danke für Dich Änneli*

*Name geändert (das Du an die Bewohnerin ist aus der Wohnform entstanden und war Bestandteil des Konzeptes)